Predigt zu Joh 11, 47-53 [und 54]
_______________In der Welt habt ihr Angst...
Angst geht um.
Man kann sie förmlich riechen, schmecken, tasten, hören und sehen.
Angst geht um.
Sie hat mich. Sie hat dich. Die Angst hat viele Gesichter.
Angst vor dem Urteil anderer Menschen.
Ihr Urteil fällen sie beiläufig, im Handumdrehen, kühl und brutal:
„Du bist nicht wertvoll! Du bis wertlos, hässlich, du bringst es nicht!“, sagen sie.
Angst vor meinem eigenen Versagen.
„Ich bekomme das einfach nicht auf die Reihe...niemals; ich bring's einfach nicht!“, sage ich.
Angst geht um.
Prüfungsangst, Arbeitsangst, Familienangst, Freundesangst. Liebesangst.
Tagesangst. Lebens- und Überlebensangst. Todesangst.
Angst geht um.
Unter denen, die sagen: „Wir schaffen das!“ und unter denen, die brüllen: „Nein! Niemals!“
Unter denen, die nach Veränderung schreien,
genau so wie unter denen, die wollen, dass alles so bleibt wie es ist.
Und die Ängstlichen fragen: „Was sollen wir tun?
Lassen wir ihn gewähren, […] dann kommen die
Römer und nehmen uns Tempel und Volk.“
_______________besser, ein Mensch sterbe für das Volk
Es tut so gut, wenn dann eine oder einer das Heft in die Hand nimmt
und sagt, was zu tun ist.
und sagt, was zu tun ist.
Und so war es auch diesmal:
Kaiphas hieß er. Damals. In jenem denkwürdigen Jahr. Kaiphas stand auf.
Er begegnete all der Verängstigung und Ratlosigkeit mutig und scharf:
„Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“
Wenn viele bedroht sind, dann müssen wir eben jemanden opfern, um uns zu schützen.
„Aber gibt es nicht schon so viele Opfer?“, frage ich.
Gab und gibt es nicht schon viel zu viele, die unschuldig unter die Räder gekommen sind?
Geopfert auf dem Altar von Angst und Feindseligkeit, der immer neues Blut verlangt:
brennende Unterkünfte, sinkende Boote, Waffen in Schulen, Mobbing und Häme.
Jetzt, in diesem Jahr, ein denkwürdiger Augenblick:
Ich sehe aus dem Fenster. Zwei Mädchen unten auf der Wiese.
Ein kaputter Fußball zwischen den beiden.
Schuldzuweisungen gehen hin und her. Ich höre sie nicht.
Ich denke nur: Wir brauchen eben immer einen Schuldigen. Egal wie alt wir sind.
Egal zu welcher Zeit.
Mal sind Volksgruppen schuld, mal Religionsgemeinschaften, mal Regierungen,
mal Ämter, mal Einzelne und wenn alles nichts hilft, dann das Schicksal oder Gott.
Und auch diesmal haben sie einen gefunden.
Sie – die Hohepriester und Pharisäer, die Wortführenden im Volk.
Sie haben Angst.
Eigentlich haben sie Angst, ihre Macht zu verlieren.
Sie ist von vielen Seiten bedroht:
von den Unzufriedenen im Volk ebenso wie von den Besatzern im Land.
Angst geht um.
Sie haben einen Schuldigen gefunden.
Der Beschluss ist gefasst: Er muss sterben.
Einer muss sterben – für viele, sagt einer. Sagt Kaiphas.
Er muss sterben für unsere Kinder, sagt ein anderer.
Er muss sterben für heute und für die Zukunft –
was für ein denkwürdiger Moment; was für eine denkwürdige Entscheidung.
Es ist beschlossene Sache.
Einige beschließen den Tod eines Einzelnen und der muss sterben für die Zukunft.
„Wenn wir ihn los sind, wird es besser.“, sagen sie.
Alle sind sich einig. Es ist beschlossen.
Nun beraten sie darüber, wie sie es angehen könnten.
Es braucht eine günstige Gelegenheit, ihn zu fassen, diesen Jesus.
Doch der Betreffende ist nicht auffindbar.
Jesus ist weg – irgendwo, an einem Ort, den keiner kennt.
Er ist nicht auffindbar. Hat er sich verdrückt?
[leise]
Hat er am Ende selbst Angst bekommen?
[lauter]
„Recht so“, denke ich.
Ich hätte auch Angst bekommen.
Vor allem dann, wenn mein Tod beschlossene Sache wäre.
Es ist Nachmittag. Ich stehe in einem Wohnzimmer an einem Bett.
Um mich herum sitzen und stehen andere.
Das Fenster ist leicht geöffnet. Ein warmer Luftzug geht durch den Raum.
Sonnenlicht fällt herein. Es ist still. Totenstill.
Wir sind gemeinsam am Sterbebett einer jüngst Verstorbenen.
Ihr Tod war längst beschlossene Sache. Trotzdem kam er zu früh – viel zu früh.
Eine lange Krankheit, die nicht aufzuhalten war. Der Gedanke schaudert mich.
„Wen beschuldigen die Opfer?“, frage ich mich.
Wir sitzen im Wohnzimmer und traurige Blicke gehen hin und her.
Sie treffen tief ins Herz.
„Gut, dass hier und jetzt niemand allein sein muss.“, denke ich.
Und wir sitzen schweigend und tröstend beieinander.
_______________die Kinder Gottes sammeln...
Ein Laut zerreißt die Stille.
Eine beginnt zu erzählen. Sie erzählt uns von der Verstorbenen –
von Erlebnissen, von Episoden, von Hoffnungen.
von Erlebnissen, von Episoden, von Hoffnungen.
Ein anderer stimmt ein – und noch einer – und noch eine.
Da wird sie plötzlich noch einmal ganz lebendig unter uns.
Sogar Lachen ist möglich – leise und zaghaft, aber herzlich.
Sogar Lachen ist möglich – leise und zaghaft, aber herzlich.
Die Traurigkeit und die Angst vergehen für einen Moment.
Am Tempel in Jerusalem sind Leute zusammengekommen, die Jesus kennen:
55 Es war aber nahe das Passafest der Juden;
und viele aus der Gegend gingen hinauf nach Jerusalem vor dem Fest, dass sie sich reinigten.
56 Da suchten sie Jesus und redeten miteinander, als sie im Tempel standen:
Was meint ihr? Er wird doch nicht zum Fest kommen?
(Luther 2017)
Er kam. Sechs Tage vor dem Fest war er wieder in Bethanien,
wo er Lazarus von den Toten auferweckt hatte.
Die Menschen haben angefangen von ihm zu reden.
Da ist er wieder aufgetaucht.
Da konnte die Angst vergehen.
Und er taucht immer wieder auf.
Dort, wo sich die Kinder Gottes sammeln.
„Denn Jesus sollte sterben für das Volk und nicht für das Volk allein,
sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.“
Ein denkwürdiger Augenblick:
Ich sehe aus dem Fenster. Zwei kleine Mädchen stehen auf dem Feld,
zwischen ihnen ein kaputter Fußball.
Die Eine hebt den Ball auf. Die Andere legt den Arm um sie.
Beide gehen Arm in Arm davon.
Ich sehe sie nicht mehr, doch ich erahne ein Lächeln in ihren Gesichtern.
Und am nächsten Tag, sind sie wieder da: ein neuer Ball; ein neues Spiel.
Ich gehe vom Fenster zurück in mein Zimmer und denke:
Wie schön, wenn es so gelingt.
Das braucht Mut. Ohne Schuldige. Ohne Opfer.
Über meinen eigenen Schatten, meine Angst springen. Das braucht Mut und Kraft.
Das ist auch ein Opfer – ein hingebungsvolles Opfer.
Eines, das dazu dient, die Kinder Gottes zusammenzubringen.
Ich stehe vor einem Neubau.
Es ist ein neues Gemeindehaus. Alles ist noch ganz frisch.
Beim ersten Schritt über die Schwelle tritt der Duft des Neuen, Unberührten in die Nase.
Doch es ist zugleich ein Geruch, der auch von Bitten und Flehen
und Schreien und sogar Tränen weiß.
Schweiß und Entbehrung hat dieser Neubau jetzt schon in den Fugen.
Da haben einige manches Opfer gebracht.
Ich stehe vor dem neuen Gemeindehaus [...] und ich denke an die Menschen,
die sich in Tagen und Nächten dafür eingesetzt haben.
Und ich denke an die Zukunft, die dieses Haus verspricht.
Ich höre Kinder lachen und Jugendliche tuscheln.
Ich sehe den Frauendienst in großer Runde beisammen sitzen.
Ich kann den Chor bei seinen Proben belauschen
und sehe mich selbst mit den Herren der Männerrunde bei einem abendlichen Bier versacken.
Und ich wende mich zum gehen – froh und hoffnungsvoll.
Da sehe ich mich noch einmal um und weiß: ja, er ist hier.
Und er sammelt noch: uns, die Kinder Gottes.
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