Inhalt: “Ein ganzes Jahr lang verfolgte Roger Willemsen von der Zuschauertribüne aus die Sitzungen des Deutschen Bundestages. Hier fallen Entscheidungen, die uns alle betreffen und unser Leben verändern. Aber wie fallen diese Entscheidungen, und wie vertritt uns unsere Volksvertretung wirklich? Funktioniert das Herz unserer Demokratie?”
Blick ins Buch: “Heute ist die Stimmung hitzig, ein stickiger Dunst sammelt sich unter der Kuppel. Die Debatten arbeiten sich an Fragen ab, die wieder und wieder besprochen worden sind. Es gibt wenige neue Argumente zur Unterstützung Frankreichs in Mali, zum Mindestlohn, zum Wohnungsbau. Die Regierung schützt die Investoren, die Opposition die Mieter. Die SPD forciert den Mindestlohn, die Linke reklamiert das Copyright dafür. Als habe man sich aufgerieben, setzt man den abgetretenen Argumenten eine erhöhte Dosis an Beleidigung hinzu. In kürzester Zeit hat man sich des Unwissens, der Dummheit, der Dreistigkeit, der Schönfärberei, der Täuschung, der Lüge, der Verlogenheit, des Unsinns, des Umfallens, der Heuchelei, des Populismus, der ideologischen Borniertheit, des schlechten Charakters bezichtigt, und dabei sind nicht mal Stunden vergangen. Es macht müde und kommt über den Saal wie Musikberieselung. [...] Die Reihen sind gerade dünn besetzt. Man stellt sich immer vor, das Parlament nähme an allem teil, es sei so etwas wie der geballte gesunde Menschenverstand. In der Annäherung merkt man, es sitzen meist die Fachleute der Fraktionen zusammen. Sie kommen aus den Ausschüssen, hauen sich das dort gesagte effekthascherisch noch einmal um die Ohren und verlassen, kaum ist die Simulation einer entscheidenden Debatte vorbei, den Raum. [...] Manches ist deshalb nur plausibel als die Reproduktion eines lange vergangenen Rituals - so wie die Saaldiener Schwalbenschwänze tragen, weil das mal feierlich war, wo es heute eher kostümiert wirkt, aus der Zeit gefallen. Denn wir sind in diesem Ikea-Ambiente eben nicht das englische Unterhaus. Wir sind Demokraten ohne Nimbus, und alles andere ist Attrappe. In den Reden bayerischer Abgeordneter zittert immer noch das Erbe von Franz-Josef Strauß nach. Selbst der bajuwarische Yuppie tritt wie ein Kraftmeier auf und möchte donnern - seine Rede aber gibt nur ein Räuspern her. Aus dem Satzbaukasten der Brachialrhetoriker hat man sich die Filetstücke herausgelöst, und nun sagen alle: ‘Wir dulden nicht...’, ‘nicht mit uns...’ Es ist, als wollte jeder das Zola’sche ‘J’accuse’ noch einmal sagen, auf den Barrikaden stehen, aber dafür keinen Strafzettel bekommen.” (S. 111-113)
Eine seltene Besonderheit! Dieter Hildebrandt sagte zurecht über dieses Buch: “Warum ist noch niemand auf diese Idee gekommen?” Mit Witz und Scharfsinn sieht Willemsen ein Jahr lang auf die Debatten, Protagonist_innen und Nebenschauplätze des Bundestages und dokumentiert minutiös. Seine Beobachtungen sind häufig zum Schmunzeln, zu oft aber auch haarsträubend, zum Kopfschütteln und manchmal gar erschütternd. Egal welche Politik wir befürworten oder nicht - die Abgeordneten des Bundestages müssen sich nach diesem Buch vor allem fragen lassen, ob die politische Kultur, die sie pflegen, dem “Hohen Haus” angemessen ist und wir gleichsam, ob wir diese Kultur unterstützen wollen.
Willemsen, Roger: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament, S. Fischer, Frankfurt a.M. 2014, 397 Seiten.
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